Arzthaftung: keine Beweislastumkehr bei (einfachem) Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Aufklärung
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte mit Urteil vom 04.06.2024 (VI ZR 108/23) über die Schadenersatzklage eines Frühgeborenen zu entscheiden, der den Behandelnden des Krankenhauses, in dem er geboren worden war, vorwarf, seine Eltern bei der Entlassung nicht über das erhöhte Risiko für eine gestörte Blutgefäßentwicklung der Netzhaut und Netzhautablösung bei Frühgeborenen aufgeklärt zu haben. Der Kläger war zehn Tage vor dem ursprünglich errechneten Geburtstermin aus dem Krankenhaus entlassen worden, bis zu diesem Zeitpunkt bestanden keine Hinweise auf die sog. Frühgeborenen-Retinopathie. Die Ärzte empfahlen eine augenärztliche Kontrolle erst nach drei Monaten. Dreieinhalb Wochen nach der Entlassung wurde eine Netzhautablösung bei dem Kläger diagnostiziert, er konnte zu diesem Zeitpunkt nur noch auf einem Auge und mit geringem Erfolg behandelt werden. Gestritten wurde in dem Verfahren u.a. darüber, ob der Schwerpunkt des ärztlichen Versäumnisses auf der fehlenden Information über eine kurzfristige augenärztliche Untersuchung lag oder auf der dadurch unterlassenen Untersuchung und Befunderhebung, wodurch möglicherweise eine rechtzeitige Behandlung eingeleitet und das weitgehende Erblinden des Klägers hätte verhindert werden können. Von dieser Frage hängt die in vielen Arzthaftungsfällen entscheidende Beweislastumkehr bei der Kausalität des Arztfehlers für einen Schaden ab.
Der VI. Zivilsenat des BGH hat betont, durch die Kodifizierung seiner Rechtsprechung zur Arzthaftung, darunter der Beweiserleichterungen, sei seine Rechtsprechung nicht geändert worden. Wie nach der bisherigen Spruchpraxis setze eine Beweislastumkehr nach § 630h Abs. 5 S. 2 BGB einen festgestellten Befunderhebungs- oder Befundsicherungsfehler voraus. Liege die Pflichtverletzung in einem Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Information bzw. Aufklärung, könne § 630h Abs. 5 S. 2 BGB keine Anwendung finden, dies auch dann, wenn die unterlassene Information unmittelbar dazu führe, dass die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterbleibt. Ferner wiederholt der BGH, dass ein solcher Vorgang auch nicht in zwei verschiedene Fehler aufgespalten werden dürfe.
Zudem stellt der VI. Zivilsenat klar, dass er eine Ausweitung der Beweiserleichterung für einfache Befunderhebungsfehler auf andere Behandlungsfehler nach wie vor nicht für angezeigt oder gerechtfertigt hält.
Die Abgrenzung eines Fehlers der therapeutischen Aufklärung von einem Befunderhebungsfehler ist wie bisher nach dem Schwerpunkt des ärztlichen Fehlverhaltens vorzunehmen, so der BGH weiter. Weise der Behandelnde den Patienten auf eine notwendige Untersuchung hin und unterlasse lediglich die Information über deren Dringlichkeit, handele es sich grundsätzlich nur um eine Verletzung der Pflicht zur therapeutischen Information. Denn der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liege im unterlassenen Warnhinweis zur Sicherstellung des Behandlungserfolgs, nicht in der unterbliebenen (oder verspäteten) Befunderhebung selbst.
Den entschiedenen Fall hat der BGH an das Berufungsgericht zurückverwiesen, um dem beklagten Krankenhausträger Gelegenheit zu geben, zu den neu angesprochenen rechtlichen Aspekten Stellung zu nehmen. Nach den bisher getroffenen Feststellungen liege der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des ärztlichen Fehlverhaltens allerdings in der unterlassenen Befunderhebung als solcher. Im Gegensatz zu früher entschiedenen Fällen hätten die Ärzte vorliegend eine weitere Befunderhebung nicht unmittelbar veranlasst und diese zugleich durch falsche Informationen vereitelt. Wegen der hohen Gefahr einer Erblindung hätten die Behandelnden im Krankenhaus der Beklagten jedoch eine rechtzeitige augenärztliche Untersuchung veranlassen müssen, etwa im Rahmen nachstationärer Behandlung oder durch Vereinbarung eines Termins mit einem weiterbehandelnden Augenarzt.