BGH zur erstmaligen Zuständigkeit eines Kartellsenats im Berufungsverfahren
Der Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 09.04.2024 (KZB 75/22) betrifft ein Verfahren zwischen Verkehrsunternehmen in einem Verkehrsverbund und dem Management des Verkehrsverbunds. Die Verkehrsunternehmen hatten mit dem Verkehrsverbund jeweils einen Kooperationsvertrag und einen Einnahmeaufteilungsvertrag geschlossen. Eines der Verkehrsunternehmen wandte sich mit der Klage gegen die Kündigung dieser Verträge durch den Verkehrsverbund, die Klage wurde abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte das Berufungsgericht als unzulässig verworfen, da sie beim unzuständigen Kartellgericht eingelegt und begründet worden sei.
Der hiergegen eingelegten Rechtsbeschwerde hat der BGH stattgegeben. Das Recht des klagenden Verkehrsunternehmens auf Gewährleistung wirkungsvollen Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsgebot sei verletzt. Die Klägerin habe die Berufung bei dem nach §§ 91, 92, 93, 87 GWB zuständigen Oberlandesgericht eingereicht, das nun über das Vorliegen einer Kartellsache entscheiden und den Rechtsstreit ggf. an das zuständige Berufungsgericht verweisen müsse.
Zwar habe es sich bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist nicht um einen bürgerlichen Rechtsstreit i.S.v. § 87 GWB gehandelt, da im Vortrag der ersten Instanz eine kartellrechtliche Haupt- oder Vorfrage (§ 87 S. 1 bzw. S. 2 GWB) keine Rolle gespielt habe, also die mit dem Klagebegehren erstrebte Rechtsfolge weder aus einer kartellrechtlichen Norm abgeleitet worden noch von den in § 87 GWB genannten Vorschriften abhängig gewesen sei. Hierbei komme es auf den Sachvortrag der Parteien an, nicht darauf, ob eine Partei sich auf kartellrechtliche Normen berufe. Im entschiedenen Fall habe es in erster Instanz an Sachvortrag gefehlt, der habe erkennen lassen, dass die Klägerin sich auf einen Sachverhalt gestützt habe, der kartellrechtliche Normen ausfülle.
Auch habe Vorbringen, das nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist gehalten worden sei, die Zuständigkeit des Kartellgerichts nicht mehr begründen können. Grundsätzlich könne indes wegen der materiell-rechtlichen Anknüpfung der kartellrechtlichen Zuständigkeit eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit erst in der zweiten Instanz zu einer Kartellsache werden – wenn kartellrechtlich relevante Gesichtspunkte i.S.v. § 87 GWB erstmals in zweiter Instanz geltend gemacht und nach §§ 529, 531 ZPO berücksichtigungsfähig seien. Dafür sei aber jedenfalls zu verlangen, dass der Rechtsmittelführer entsprechend § 520 Abs. 3 S. 2 ZPO spätestens mit der Berufungsbegründung die kartellrechtlich relevanten Umstände vorbringe.
Allerdings hätten vernünftige Zweifel an der Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts bestanden. Habe der Landesgesetzgeber von der Konzentrationsermächtigung in §§ 92 Abs. 1, 93 GWB Gebrauch gemacht, sei einer Partei bei Unsicherheit über das zuständige Berufungsgericht nicht zuzumuten, Berufung bei beiden möglicherweise zuständigen Berufungsgerichten einzulegen. Zwar dürfe die Berufung beim allgemeinen Berufungsgericht eingelegt werden, wenn an der Zuständigkeit des Kartell-Berufungsgerichts keine vernünftigen Zweifel bestünden, nicht aber umgekehrt bei dem für Kartellsachen zuständigen Oberlandesgericht, wenn die Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts nicht ernstlich zweifelhaft sei. Ob Unsicherheit über die Zuständigkeit des allgemeinen Berufungsgerichts besteht, ist nach der Entscheidung des BGH im Rahmen einer Einzelfallprüfung der objektiven Umstände zu bestimmen. Maßgeblich hierfür seien die Erkenntnismöglichkeiten einer verständigen Prozesspartei, basierend auf dem gesamten Akteninhalt. Solche Zweifel könnten sich auch aus formellen Gesichtspunkten ergeben. Uneindeutig sei die Zuständigkeit etwa, wenn ein nach §§ 87, 89 GWB zuständiges Landgericht erkennbar in dieser Eigenschaft entschieden habe.
Im vom BGH entschiedenen Verfahren hätten sich Zweifel an der Zuständigkeit daraus ergeben, dass das vorangegangene einstweilige Verfügungsverfahren ein Kartellverfahren war, in dem die Klägerin einen Verstoß gegen § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB und eine Diskriminierung gerügt habe; über jene Berufung hatte das Kartell-Berufungsgericht entschieden. Auf jene Entscheidung habe das Landgericht im Hauptsacheverfahren näher Bezug genommen und sei von einer Kartellsache ausgegangen, habe seine Entscheidung ferner dem Bundeskartellamt übersandt. Gehe das Gericht selbst (wenn auch zu Unrecht) von einer Kartellsache aus, sei in der Regel von einer Unsicherheit der Parteien über das zuständige Berufungsgericht auszugehen.