Dr. Christian Zwade » Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Gesamtschuldnerausgleich zwischen Mitbehandlern im Arzthaftungsrecht – Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern

Seit langem ist im Arzthaftungsrecht anerkannt, dass dem Patienten im Fall grober Behandlungsfehler Beweiserleichterungen „bis zur Beweislastumkehr“ zugutekommen. Nun hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass diese Beweisregeln auch im Gesamtschuldnerausgleich zwischen zwei Behandelnden gemäß § 426 Abs. 1 BGB Anwendung finden. Eine Haftungsverteilung nach den individuellen Verursachungsbeiträgenn könne sich auch aus Treu und Glauben ergeben. Im Rechtsstreit über den Gesamtschuldnerinnenausgleich fänden die Beweislastregeln Anwendung, die auch zwischen Schädiger und Geschädigtem gelten.

Der Berufshaftpflichtversicherer eines Facharztes für Gynäkologie hatte einen anderen Haftpflichtversicherer und die bei diesem beschäftigte Hebamme nach einem Geburtsschaden auf hälftigen Gesamtschuldnerausgleich in Anspruch genommen, die im Rahmen einer Widerklage erstrebten, dem Gynäkologen die volle Haftung aufzuerlegen. In einem vorangegangenen Prozess waren die Hebamme und der drittwiderbeklagte Gynäkologe wegen mehrerer Fehler bei einer Geburt als Gesamtschuldner zur Zahlung von Schadenersatz an die Kranken- und Pflegekasse des geschädigten Kindes verurteilt worden. Der beklagte Versicherer der Hebamme hatte infolge des Urteils knapp € 280.000,00 an die Kassen gezahlt. Die klagende Versicherung hatte ihrerseits aufgrund eines Vergleichs € 640.000,00 zuzüglich Rechtsverfolgungskosten an das geschädigte Kind geleistet. Beide Versicherer leisten fortlaufend weitere Zahlungen.

Das Landgericht hatte die Haftung im Innenverhältnis der Behandelnden wegen des Weisungsrechts des Arztes gegenüber der Hebamme vollständig bei dem Gynäkologen gesehen. Das Berufungsgericht nahm unter Würdigung der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge die Haftung des Arztes zu 80 % und der Hebamme zu 20 % an.

Der BGH hat in seinem Urteil vom 06.12.2022 (VI ZR 284/19) die Entscheidung des Berufungsgerichts bestätigt. Jedem rechtskräftig als Gesamtschuldner verurteilten Streitgenossen bleibe im nachfolgenden Rechtsstreit um den Innenausgleich die Möglichkeit, die im Vorprozess bejahte Haftung dem Gläubiger gegenüber und das Bestehen eines Gesamtschuldverhältnisses in Frage zu stellen. Der Schädiger, der einen Ausgleichsanspruch gemäß § 426 Abs. 1 BGB gegenüber dem anderen geltend macht, müsse im Streitfall darlegen und beweisen, dass ein Gesamtschuldverhältnis besteht. Er müsse daher beweisen, dass der Patient auch gegen den anderen Schädiger einen Schadenersatzanspruch hat, wozu auch die Kausalität des Fehlers für den Schaden zählt. Insoweit gälten dieselben Beweisgrundsätze, wie sie im Arzthaftungsverfahren gelten, etwa § 630h Abs. 5 BGB.

Nach § 426 Abs. 1 BGB hafteten Gesamtschuldner zu gleichen Anteilen, wenn nichts anderes bestimmt sei. Eine solche andere Bestimmung könne sich auch aus Treu und Glauben ergeben. Sei die Haftungsverteilung nicht vertraglich geregelt, sei diese nach den einzelnen Verursachungsbeiträgen abzuwägen, wobei § 254 Abs. 1 BGB entsprechend gelte. Hierbei handele es sich um eine vom Revisionsgericht nur beschränkt überprüfbare tatrichterliche Würdigung.

Allerdings seien die Grundsätze der Beweislastumkehr wie im Arzthaftungsverfahren zwischen Patient und Behandelnden anzuwenden; die Interessenlage sei vergleichbar, auch drohten anderenfalls Wertungswidersprüche. Ein eigener grober Behandlungsfehler eines Mitschädigers schließe es nicht aus, dass er sich im Gesamtschuldnerinnenausgleich auf grobe Behandlungsfehler des anderen Schädigers beruft.

Im konkreten Fall seien dem Gynäkologen nach der vom BGH bestätigten Würdigung des Berufungsgerichts zu Beginn seiner Tätigkeit zwei Behandlungsfehler vorzuwerfen, das Verkennen des Geburtsverlaufs, insbesondere eines pathologischen CTG, und die spätere Nichterreichbarkeit nach Anordnung eines Wehentropfs, als er sich zur Ruhe gelegt habe. Insgesamt handele es sich um einen groben Behandlungsfehler, dessen Mitursächlichkeit für die Behinderung des Kindes festgestellt sei. Zudem sei ihm im weiteren Verlauf eine zu lange Zeit zwischen Anordnung und Durchführung der Notsectio anzulasten; insoweit sei die Kausalität unklar. Ein weiterer grober Behandlungsfehler liege in der um eine Stunde verspäteten Verständigung des Babynotarztes, der nach Aussage des Sachverständigen „vermutlich“ kausal für die Schäden sei. Dagegen sei der Hebamme nur ein grober Behandlungsfehler vorzuwerfen, das unterlassene Abstellen des Wehentropfs bei Verschlechterung der Herzfrequenz des Kindes und die nicht ausreichende Hartnäckigkeit ihrer Versuche, den Gynäkologen zu verständigen; auch dieser Fehler sei ursächlich für die Schäden des Kindes. Abzuwägen seien daher drei Behandlungsfehler des Arztes, davon zwei grobe, gegen einen groben Behandlungsfehler der Hebamme. Zu berücksichtigen sei, dass der Gynäkologe durch sein Handeln die Notfallsituation erst herbeigeführt habe; die Hebamme habe diese nicht beherrschen können. Ihr Verursachungsbeitrag trete aber nicht völlig dahinter zurück, da sie die pathologische Situation erkannt habe und bei Nichterreichbarkeit des Arztes nicht mehr an dessen vorherige Weisung gebunden gewesen sei.

Daneben hat der BGH erneut klargestellt, dass eine Hebamme dem Arzt, der die Behandlung übernommen hat, zwar weisungsgebunden ist. Ausnahmen gälten aber dann, wenn sie ein vollkommen regelwidriges, unverständliches Handeln des Arztes erkenne und dagegen nicht zumindest protestiere, oder wenn sie wegen Fernbleibens oder Ausfalls des Arztes als einzige Behandelnde mit geburtshilflicher Ausbildung eine Schädigung von Kind oder Mutter verhindern könne.