Dr. Christian Zwade » Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

(Nicht-)Erreichbarkeit von Zeugen im Ausland und Gehörsverletzung

In einem Beschluss vom 21.12.2023 hat der Bundesgerichtshof festgehalten, dass an die Annahme der Unerreichbarkeit eines Zeugen strenge Anforderungen zu stellen sind und ein Gericht grundsätzlich alles unternehmen muss, um einen im Ausland ansässigen Zeugen zu vernehmen. Besteht ein Rechtshilfeübereinkommen mit dem Land, in dem sich der Zeuge aufhält, muss versucht werden, eine Vernehmung über den Weg der Rechtshilfe zu erreichen, ggf. per Videokonferenz. Auch muss das Gericht die Annahme, die Aussage eines Zeugen sei nur von Beweiswert, wenn es ihn selbst vernehmen könne, näher begründen. Unterlässt es das, ist das rechtliche Gehör der Partei verletzt, die sich auf den Zeugen berufen hat.

Anlass dieser Entscheidung (III ZR 21/23) ist ein Verfahren um Schadenersatz im Zusammenhang mit einer fehlgeschlagenen Kapitalanlage. Der Kläger hatte sich mit einem Mezzanine-Darlehen mit einer Laufzeit von drei Jahren an einer Fondsgesellschaft in der Form einer GmbH beteiligt, die sich wiederum an einer Projektgesellschaft im Ausland beteiligen sollte, die Wasserkraftwerke bauen und in Betrieb nehmen sollte. Die Fondsgesellschaft sollte bis zum Ablauf der Nachrang-Darlehen ihre Beteiligung an der Projektgesellschaft gewinnbringend an einen Investor verkaufen. Später wurde der Initiator des Fonds u.a. im Hinblick auf einen Vorgängerfonds wegen der missbräuchlichen Verwendung von Geldern (Untreue in zehn Fällen) zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Auch das für den verfahrensgegenständlichen Fonds eingeworbene Geld wurde veruntreut, das Strafverfahren gegen den Initiator wegen anderweitiger Verurteilung (§ 154 StPO) eingestellt. Der Initiator lebt aktuell in der Türkei. Der Kläger verlangte von dem Geschäftsführer der Fonds-GmbH Schadenersatz, da er gewusst habe, dass der Initiator das Geld nie habe investieren wollen, und dass es die beworbene Mittelverwendungskontrolle nie gegeben habe. Das Berufungsgericht hat Beweisbeschluss erlassen und den Initiator als Zeugen geladen, der dem Richter in zwei Telefonaten mitteilte, nicht zum Termin nach Deutschland reisen zu wollen und auch zu einer Aussage nicht bereit zu sein. Darauf sah das Gericht, das einen Ersatzanspruch aus unerlaubter Handlung für möglich hielt, den Zeugen als nicht erreichbar an, die Berufung des klagenden Anlegers blieb erfolglos.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Entscheidung aufgehoben und zur weiteren Verhandlung zurückverwiesen. Das Berufungsgericht habe das rechtliche Gehör des Klägers verletzt, indem es den Zeugen vorschnell als nicht erreichbar ansah, also ein erhebliches Beweisangebot nicht berücksichtigt habe. Das aufklärungspflichtige Gericht dürfe nur dann einen Beweisantrag wegen Unerreichbarkeit eines Zeugen ablehnen, wenn es in Relation zur Bedeutung der Zeugenaussage alles zur Beibringung des Zeugen versucht habe, und gleichwohl keine Aussicht bestehe, das Beweismittel in absehbarer Zeit beizubringen.

Zwar könne das Erscheinen des im Ausland ansässigen Zeugen vor einem deutschen Gericht nicht erzwungen werden. Allerdings habe das Oberlandesgericht den Versuch unternehmen müssen, den Zeugen im Wege der Rechtshilfe in der Türkei vernehmen zu lassen. Sei der Zeuge nicht bereit, in Deutschland auszusagen, sei er noch nicht unerreichbar. Nach § 363 ZPO ist eine Vernehmung im Ausland möglich, weshalb eine Unerreichbarkeit grundsätzlich nur in Betracht komme, wenn ausschließlich die Vernehmung vor dem Prozessgericht zur Entscheidung beitragen könne. Das müsse das Gericht schlüssig begründen. Ein pauschaler Verweis darauf, das Gericht benötige einen persönlichen Eindruck vom Zeugen, um sich von dessen Glaubwürdigkeit zu überzeugen, genügt nach Auffassung des BGH nicht, vielmehr käme das einer unzulässigen Vorwegnahme der Beweiswürdigung gleich.

Auch wenn das Gericht einen persönlichen Eindruck für unverzichtbar halte, müsse eine Vernehmung im Ausland per Videoübertragung (§§ 128a, 284 S. 2 ZPO) in Betracht gezogen werden. Für die Anordnung der Vernehmung durch Bild- und Tonübertragung sei kein entsprechender Antrag des Zeugen erforderlich.

Weiter weist der BGH darauf hin, dass nach Art. 9 Abs. 2 des Haager Übereinkommens über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- und Handelssachen (HBÜ) auch besondere Formen der Beweisaufnahme wie Videoübertragungen möglich sind; diese schieden nur dann aus, wenn das Recht des ersuchten Landes solche Formen der Beweisaufnahme ausschließe. Das ausländische Gericht könne dabei nach seinem Prozessrecht sogar dem deutschen Richter gestatten, selbst der Partei oder dem Zeugen Fragen zu stellen.

Es stehe der Beweisaufnahme auch nicht entgegen, dass der Zeuge am Telefon erklärt habe, in diesem Verfahren nicht aussagen zu wollen. Denn es könne nicht bereits im Voraus ausgeschlossen werden, dass der Zeuge nicht doch einer Aufforderung der türkischen Behörden zur Zeugenaussage vor einem Gericht vor Ort nachkomme. Außerdem kämen Zwangsmaßnahmen gegen den Zeugen nach dem Recht des ersuchten Staats in Betracht (Art. 10 HBÜ).

Schließlich stehe ein mögliches Zeugnisverweigerungsrecht dem Versuch einer Beweisaufnahme im Ausland nicht von vornherein entgegen. Hier stehe schon nicht fest, ob ein Zeugnisverweigerungsrecht bestehe und ob sich der Zeuge darauf berufen würde. So habe das Berufungsgericht nicht festgestellt, ob etwaige Straftatbestände im eingestellten Strafverfahren verjährt seien und ob nach türkischem Recht ein Zeugnisverweigerungsrecht bestehen könne.